Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen?

 

Stefanie Gerlach / Markus Kroll, Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
9. bis 10. Oktober 2014
 

 

Sind (historische) Zeitungen noch relevant für das Historische Lernen? Diese Frage stand im Zentrum einer Tagung, die der Lehr- und Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften gemeinsam mit dem Internationalen Zeitungsmuseum Aachen ausrichtete. Sowohl die heutige Schülerschaft als auch die Studierenden konsumieren immer weniger tagesaktuelle Zeitungen. Ergibt sich daraus bereits der Verzicht auf die Analyse von historischen wie aktuellen Zeitungen in der Geschichtsdidaktik oder gar in der gesamten Geschichtswissenschaft? Intensiv erörterten Vertreter aus Zeitgeschichtsforschung, Geschichtsdidaktik und schulischem Unterricht diese Themen.

 

FRANK BÖSCH (Potsdam) eröffnete die Tagung mit einem grundlegenden Vortrag über die Mediengeschichte als Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft. In der historischen Betrachtung konzentrierte er sich auf drei Phasen: die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert und der Etablierung dieses Mediums, das bis zu seiner Festigung im 18. Jahrhundert primär zur Legitimierung der Herrschaftsinstanzen diente. Ein weiterer Fokus zeigte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zeitungen unter anderem als Träger nationaler Bewegungen und Revolutionen hervortraten, sich zugleich aber auch transnationale Kommunikationsnetzwerke und Nachrichtenagenturen herausbildeten. Als dritte Phase betrachtete Bösch das Zeitungswesen im 20. Jahrhundert mit einem besonderen Fokus auf eine Zusammenschau des Ersten Weltkrieges, der nationalsozialistischen Herrschaft sowie der DDR. In dieser diachronen Gesamtperspektive wurden Forschungsdesiderate aufgezeigt, wie etwa der Vergleich von Presseanweisungen und gedruckten Nachrichten. Bilanzierend konstatierte Bösch, dass Zeitungen aus der Sicht des Historikers gar nicht überschätzt werden könnten.

 

Nach dem Eröffnungsvortrag schlossen sich drei inhaltliche Panels an, die von CHRISTIAN KUCHLER (Aachen) eröffnet wurden. Er analysierte die aktuelle Situation zum Medium Zeitung in der Geschichtsdidaktik und wies eine fast vollständig fehlende Diskussion zum Thema nach. Dieser Erkenntnis setzte er eine Analyse von aktuellen Geschichtsbüchern entgegen, in denen Zeitungen bzw. Zeitungsausschnitte zwar vorkommen, jedoch eher als „Faksimile“ oder „Appetizer“ eingebettet sind. Darüber hinaus nahm Kuchler den wohl wichtigsten Schülerwettbewerb, den zweijährig stattfindenden „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ in den Blick und konnte durch die Analyse prämierter Projekte feststellen, dass mehr als ein Drittel auf Basis von Zeitungen durchgeführt wurden, jedoch die Eigenbedeutung der Medien in den Wettbewerbsbeiträgen kaum reflektiert wird.

 

Im Anschluss daran präsentierte CAJUS WYPIOR (Heilbronn) mit sehr illustrativen Beispielen unterschiedliche Möglichkeiten zum Umgang mit Zeitungen, die er zuvor theoretisch justierte. Zeitungen würden die Gegenwart in Diskursen erklären, die sie teilweise mit- und untereinander führen. Zudem berichten sie über Vergangenes und greifen trotzdem bis in die Gegenwart hinein. Letztlich kreieren sie Wirklichkeiten, die sich durch ihre Narrationen und Diskurse erst herausbilden. Für die Fachdidaktik leitete Wypior die Konsequenzen ab, dass anhand von Zeitungen die Konstruktion von Gegenwart durch die Historie erfasst werden könne, die immer Identität, Gemeinschaft und Sinnvermittlung umfasse.

 

Abschließend berichtete THOMAS GÖTTLICH (Gießen) über Erfahrungen aus einem universitären Seminar, in dem Studierende mithilfe von Zeitungen konkrete Unterrichtsprojekte entwarfen und durchführten. Als einen großen Vorteil des Mediums stellte er heraus, dass es ermögliche Geschichte haptisch erfahrbar und greifbar zu machen. Damit gehe eine Verkürzung der Distanz der Schülerinnen und Schüler zum historischen Gegenstand und eine Stärkung der Relevanz der Thematik einher. Das Medium Zeitung diene dabei als Transportmedium für Konfrontationen.

 

Im zweiten Panel widmete sich ASTRID SCHWABE (Flensburg) unter geschichtsdidaktischen Prämissen digitalen Zeitungsangeboten. Sie betonte das Potential von digitalen Presseerzeugnissen und kategorisierte den Mehrwert nach Fragen des Zugangs, als zeitgeschichtliche Quelle, als geschichtskultureller Akteur, als Plattform geschichtskultureller Debatten sowie als mediengeschichtliche Reflexion. So fördere der Zugang die Recherche-Kompetenz von Novizen und das selbstgesteuerte Lernen, während kostenfreie Portale wie beispielsweise die Zugriffsmöglichkeit auf die digitalisierten Ausgaben des „Spiegels“ über „Spiegel-Online“ sinnvolle Ergänzungen zu anderen Unterrichtsmedien darstellen. Dabei würden die digitalen Angebote die klassische Zeitung nicht ersetzen, sondern sie ergänzen. Einen Vorteil machte Schwabe darin aus, dass in kurzer Zeit ein punktuelles Abbild des Zeitgeistes gespiegelt und geistige Problemlagen anzeigt würden.

 

Ein innovatives und einzigartiges Projekt in der Digitalisierung von Zeitungen stellte HOLGER WETTINGFELD (Berlin) vor. Im Rahmen des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt“ wurde die Berliner Morgenpost aus dem Jahr 1933 im Zeitraum vom 1.Januar bis zum 31.Dezember 2013 simultan online veröffentlicht. Zusätzlich wurden synchrone Quellen sowie Kommentare und andere Pressestimmen erfasst und ergänzend im Netz publiziert. Anhand dieser Quellen wurde ein äußerst breiter Ausschnitt der Medienberichterstattungen aus dem „Schicksalsjahr 1933“ Tag für Tag sichtbar gemacht. Nach Abschluss des Projektes wurden Zugänge für Schulen entwickelt und exemplarisch durchgeführt.

 

Der Abschluss dieses Panels erfolgte mit lokalem Bezug. REBECCA KRIZAK (Aachen) stellte das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als Lernort vor, das Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Sammlungen anlegte und 1931 die erste Ausstellung zeigte. Die heutige Sammlung umfasst 200.000 nationale und internationale Zeitungen. Nach seiner Wiedereröffnung im Jahr 2010 änderte sich der Fokus, aus dem Zeitungsmuseum wurde ein Lernraum zur Geschichte der Medien. Anhand einer Befragung von Lehrkräften differenzierte Krizak Anlässe und Beweggründe für einen Ausstellungsbesuch. Dabei reichte das Spektrum vom Lehrplanbezug über die angestrebte Förderung von Medienkompetenz oder den Besuch eines außerschulischen Lernortes bis hin zur Nutzung von Zeitungen als Quelle.

 

Im abschließenden, sehr offen als „Lernen ohne Grenzen“ umschriebenem dritten Panel zeigte PETER GEISS (Bonn) auf, wie die Arbeit mit Zeitungen gerade den bilingualen Geschichtsunterricht bereichert. Anhand einer Unterrichtseinheit über die Presseberichterstattungen während der Julikrise 1914 erläuterte er, wie durch forschendes Lernen multiperspektivisches Denken geschult werden könne. Als Beispiel einer gewinnbringenden Arbeit mit Printmedien stellte Geiss eine ereignisgeschichtlich orientierte Unterrichtsreihe über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor, die es den Schülerinnen und Schülern ermögliche, eigenständig Presseerzeugnisse aus dem Juli 1914 zu recherchieren und auszuwerten. Gerade der bilinguale Geschichtsunterricht bilde für solch eine Unterrichtseinheit hervorragende Rahmenbedingungen, da er die Arbeit mit binationalen Quellenkorpora ermögliche und somit die Chancen für einen multiperspektivischen Blick auf die Historie steigere.

 

ASTRID BLOME (Mainz) behandelte in ihrem Vortrag die Relevanz von Drucken der frühen Neuzeit für das historische Lernen. Neben grundsätzlichen Fragestellungen bezüglich des zeitgebundenen Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit böten diese, etwa in Form von Inseraten, zahlreiche Anknüpfungspunkte für sozial- und wirtschaftshistorische Fragestellungen. In ihrer Qualität als regionaler Identitätsstifter stellt die frühneuzeitliche Presse zudem einen gewinnbringenden Erarbeitungsgegenstand für kulturgeschichtliche Zugänge dar, indem beispielsweise die Geschichte der Presse als Geschichte der Aufklärung zu betrachten sei.

 

Der abschließende Vortrag fokussierte das Schreib- und Textverständnis von Schülerinnen und Schülern. SVEN OLESCHKO (Duisburg-Essen) lotete unter lehr-lern-psychologischen Aspekten und fachspezifischen Anforderungen die Grenzen und Hürden des Einsatzes von Zeitungen in sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppen aus. So betonte er die Bedeutsamkeit von schriftsprachlichem Handeln bei schriftlichen Aufgabenlösungen im Sachfachunterricht sowie das Potential von Zeitungen als Bild- und Textquellen für einen sprachlich-inklusiven Geschichtsunterricht. In diesem Zusammenhang plädierte Oleschko für eine kritische Betrachtung von Methodenseiten in Schulbüchern: häufig seien Mechanismen der Exklusion mit den Erwartungshaltungen der Lehrenden gleichzusetzen und demnach sollten fachliche und sprachliche Erwartungen benannt und reflektiert werden.

 

Mit einem Resümee seitens MICHELLE BARRICELLI (Hannover) wurde die Tagung zum vermeintlichen „Herbst eines Mediums“ geschlossen. Er stellte eine breite Zeitungslandschaft als Garant für Pluralismus und Multiperspektivität heraus, die sowohl in historischer Perspektive (durch fortschreitende visuelle Ausdifferenzierung) als auch in der Gegenwart (durch ein stetig ansteigendes Maß an Crossmedialität) stets an Komplexität gewonnen habe. Zudem sei dem Medium Zeitung inhärent, lediglich sich selbst gegenüber verantwortlich zu sein, woraus sich ein kolportiertes Wirklichkeitskonstrukt ergeben könne. Für die heranwachsende Generation büßt die Zeitung aufgrund der Verlustigkeit ihres Propriums „Schnelligkeit“ an Relevanz ein, sodass die Auseinandersetzung mit dem Medium Zeitung für Lernende zu einer Alteritätserfahrung werde, die für die Arbeit im Geschichtsunterricht neue Möglichkeiten biete. Für die historische Analyse sei es umso wichtiger, bei den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen zu fördern, die es erlauben, das ihnen zunehmend fremde Medium zu erfassen. Die gesellschaftliche Relevanz des Mediums auch in der Gegenwart liegt nach Barricelli vor allem in der menschlichen Neugier begründet, die nach aktuellen Nachrichten und kulturellen Informationen dürstet und sich daraus einen vermeintlichen Wissensvorsprung verspricht.

Konferenzübersicht:

 

Eröffnungsvortrag:
Frank Bösch (Potsdam), Zeitungen als Quellen der Geschichtswissenschaft – Grundlagen, Methoden und Perspektiven der Mediengeschichte

 

Panel I: Aktuelle Situation

Christian Kuchler (Aachen), Historische Tagespresse im Geschichtsunterricht

Cajus Wypior (Heilbronn), Handlungsorientierter Geschichtsunterricht mit Zeitungen

Thomas Göttlich (Gießen), Zeitungen in der geschichtsdidaktischen Lehre. Ein Werkstattbericht

 

Panel II: Materialisierung von Zeitungen

Astrid Schwabe (Flensburg), Multimediale App statt Papier und Druckerschwärze – Das „alte“ Medium Zeitung in der digitalen Welt und der Geschichtsunterricht

Rebecca Krizak (Aachen), Das Internationale Zeitungsmuseum als Lernort

Holger Wettingfeld (Berlin), Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur

 

Panel III: Lernen ohne Grenzen

Peter Geiss (Bonn), Printmedien und bilingualer Unterricht

Astrid Blome (Mainz), Drucke der frühen Neuzeit als Gegenstand des historischen Lernens

Sven Oleschko (Duisburg-Essen), Einsatz von historischen Zeitungen in sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppen

 

Tagungsbilanz:
Michele Barricelli (Hannover), Historische Zeitungen und Historisches Lernen. Ergebnisse und Perspektiven
Tagungsbericht: Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen?, 09.10.2014 – 10.10.2014 Aachen, in: H-Soz-Kult, 20.11.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5696>.