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„Heilige Orte“ als Lernorte

 

Neben seinem medienpädagogischen Schwerpunkt widmet sich der Lehr- und Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften auch den außerschulischen Lernorten. Ausgangspunkt dieser Tätigkeit ist die Überzeugung, nach der urbane Räume als Kristallisationspunkte der Gesellschaft angesehen werden können. In diesen Verdichtungsräumen manifestiert sich das menschliche Leben in besonders anschaulicher Weise. Für den gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht ist daher städtischer Lebensraum ein hochgradig interessantes Untersuchungsobjekt, zumal sich in ihm die zunehmende Diversität der Gesellschaft wiederspiegelt. Soll diese künftig verstärkt in den Unterricht einbezogen werden, so bieten sich urbane Räume als Thema geradezu an. Dies gilt besonders, weil sie die im Zuge des „Spatial Turns“ eingeforderte stärkere Orientierung an der Kategorie Raum ermöglichen. Auch wenn zuletzt in Zweifel gezogen wurde, ob Städte auf Grund ihrer Komplexität als „Lernorte“ bezeichnet werden können, so eignen sie sich doch als Untersuchungsgegenstände, gerade weil ihre historische Dimension eine besondere Herausforderung für Jugendliche darstellen. In ihnen müssen sich die Lernenden mit unbearbeiteten Zuständen auseinandersetzen, müssen komplexe Quellen bearbeiten und werden angeregt zum „Rückwärtslesen von Versteinerungen“. Städte wirken als „dreidimensionales Palimpsest“, dessen Überlagerungen erst abgetragen werden müssen, um die unterschiedlichen Strukturen zu erkennen. Am Ende dieser Analyse gilt es dann, die Befunde sinnvoll zu präsentieren und dabei eigene „narrative Räume“ entstehen zu lassen.

 

Für eine gesellschaftswissenschaftliche Didaktik, die sich der Geschichts-, Religions- und Politikwissenschaft verbunden weiß, bieten Städte vielfältige Zugänge. Für das Profil des hier vorzustellenden Lehr- und Forschungsbereichs bietet sich besonders ein Segment des komplexen urbanen Raums zur Analyse an: In den Blick rücken Gotteshäuser und Gebetsräume verschiedener Religionen innerhalb urbaner Räume. Es sollen also christliche Kirchen, islamische Moscheen, jüdische Synagogen oder religiöse Stätten anderer Religionsgemeinschaften analysiert werden. Grundlage dieser Arbeit ist das Konzept der historischen Orte, das am Lehrstuhl jüngst mit dem Blick auf die aktuelle Schulsituation konkretisiert wurde. Es geht demnach nicht um die Gotteshäuser in ihrer spirituell-theologischen Dimension, sondern um die Genese der differenzierten Religionslandschaft, die mitteleuropäische Städte des 21. Jahrhunderts prägt. Schließlich sind neben Kirchtürmen auch Minarette, Synagogen oder Tempel zum integralen Bestandteil urbaner Räume geworden. Die gegenwärtige Situation ist jedoch Ergebnis eines langfristigen Prozesses. Die Historizität der eigenen Lebenswelt machen sich heutige Jugendliche kaum mehr bewusst. Eine intensive Analyse der religiösen Räume innerhalb der eigenen Heimat kann mithin viel zum Verständnis der Diversität moderner Gesellschaften beitragen.

 

Am Beispiel der Stadt Aachen soll dies untersucht werden. Die Stadt Karls des Großen ist in der Fremdwahrnehmung, aber auch in ihrer Eigendarstellung, sehr auf den Dom und die vormalige Kaiserpfalz konzentriert. Das Ensemble, das 1978 zu den ersten Welterbestätten der UNESCO überhaupt gehörte, ist jedoch nur das prominenteste Gotteshaus der Stadt. Aachen ist keineswegs mehr eine geschlossen katholische Enklave, die sich nur auf die Bischofskirche hin ausrichtet. Vielmehr steht die Stadt exemplarisch für viele Ballungszentren, die ihre konfessionell einheitliche Struktur spätestens mit der Industrialisierung verloren haben. Die davor deutlich exponierten Kirchen, zumeist waren sie entweder von katholischer oder von protestantischer Seite errichtet worden, bekamen im 19. Jahrhundert Konkurrenz von Schornsteine und Fabrikhallen. Doch daneben traten Synagogen. Die jüdischen Gemeinden, vor allem in größeren Städten, drückten damit besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr gestiegenes Selbstvertrauen und ihre gewachsene Bedeutung für die kommunale Gesellschaft aus, die sich im Bau repräsentativer Bethäuser manifestierte. In der vormaligen Kaiserstadt beispielsweise entstand 1862 im Innenstadtbereich eine exponierte Synagoge, die bis zu ihrer Zerstörung in der Pogromnacht des Novembers 1938 das Zentrum der jüdischen Gemeinde bilden sollte. Das 20. Jahrhundert, und hier besonders die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, veränderte diese Situation noch tiefgreifender. Vor allem die Flüchtlingsbewegungen nach dem Krieg und die Arbeitsmigration der Nachkriegszeit führten zu einer weiteren Pluralisierung. Nachdem zunächst die Flüchtlinge und Vertriebenen für die Auflösung der letzten konfessionell geschlossenen Territorien sorgten, entstanden weitere Kirchenbauten unterschiedlicher Konfessionen. Mit der Anwerbung von „Gastarbeitern“ ab den 1950er Jahren traten vor allem islamische Moscheen hinzu. Deren Minarette sind bis heute immer wieder Gegenstand kontroverser politischer Debatten, was in einem historisch-politischen Unterricht produktiv genutzt werden kann, wenn erarbeitet wird, wie sich gerade die religiöse Landschaft in Deutschland ausdifferenzierte.

 

In Aachen kann dies gut an den örtlichen Moscheen festgemacht werden. Vor allem im Falle der Bilal-Moschee am westlichen Ende der Innenstadt lässt sich ablesen, wie willkommen die „Gastarbeiter“ in den 1960er Jahren waren. Beleg dafür ist nicht zuletzt, dass die lokale Hochschule sich am Bau des ersten islamischen Gotteshauses finanziell beteiligte. Die Rheinisch-Westfälischen Technische Hochschule wollte auch Studierende aus islamischen Ländern nach Aachen holen, um sie hier ausbilden zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, stellte die RWTH Geldmittel zur Verfügung, so dass im Jahr 1964 die Moschee am Westbahnhof eröffnet werden konnte. Ein sinnvoller Gegenwartsbezug kann zudem hergestellt werden, wenn die aktuellen Arbeiten an einer dritten Großmoschee in Aachen vergleichend thematisiert werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, warum es bis ins Jahr 1995 dauerte, bis die zerstörte jüdische Synagoge der Stadt wieder aufgebaut wurde und weshalb frühere Bemühungen in diese Richtung scheiterten und erst, unmittelbar nach der Wiedervereinigung – ähnlich anderen Beispielen etwa in Bamberg, Chemnitz, Hannover, München oder Mainz  – ein Wiederaufbau in Angriff genommen wurde. Ebenso wie die Errichtung von islamischen Zentren oder buddhistischen Tempeln etwas über die Gesellschaft der bundesdeutschen Nachkriegszeit aussagt, birgt der Umgang mit jenem jüdischen Erbe grundlegende Informationen über die lokale Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Die Beschäftigung mit dem Wiederaufbau oder der Nichtwiederherstellung von jüdischen Synagogen ist mithin ein probates Mittel, um im Unterricht am lokalen Beispiel die „Zweite Geschichte des Nationalsozialismus“ zu thematisieren. Die zu analysieren, ist Gegenstand einer Förderung im Rahmen des Leo Baeck-Programms der Stiftung „Erinnerung – Vergangenheit – Zukunft“.

 

Im Zentrum der Forschungsbemühungen des Lehrstuhls wird nun stehen, nicht nur die lokale Geschichte der religiösen Bauwerke und ihrer Entstehung zu untersuchen, sondern auch mit Schülerinnen und Schülern diese besonderen historischen Orte zu entdecken. Als Weiterentwicklung des Konzepts der „Historischen Orte“ soll nun der Blick auf „Heilige Orte“ gerichtet werden. Für Aachen wird exemplarisch untersucht, welche Bedeutung jene „Heiligen Orte“ für das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Stadt haben. Ausgeleuchtet wird der historische Kontext, in welchem die „Heiligen Orte“ entstanden und die Ergebnisse sollen in Beziehung zu der lokalen, regionalen und überregionalen Geschichte gesetzt werden. Aus diesem Verfahren kann ein Bild entstehen, das Schülerinnen und Schülern verständlich macht, warum ihre Gegenwart so plural ist und, ganz anders als in früheren Zeiten, keine konfessionell und religiös geschlossenen Räume mehr vorhanden sind.

 

Untersucht werden soll dabei nicht zuletzt der Ertrag, der mit unterschiedlichen Erarbeitungsmethoden und Quellen erzielt werden kann. Neben der bereits genannten Tagespresse wird es dabei vor allem um den Einsatz von Stadtplänen, Grundrissen, Karten und Stadtdarstellungen – vom Kupferstich bis zur Digitalfotografie – gehen. Zusammen mit Experten- und Zeitzeugenbefragungen, schriftlichen Quellen und Filmdokumenten soll ein „Methodenmix“ entstehen, der einen ertragreichen Zugang zu den „Heiligen Orten“ ermöglicht.

 

Neben den Großbauten können daneben eine Reihe von weiteren „Heiligen Orten“ verschiedener Religionsgemeinschaften in ähnlicher Art erarbeitet werden. Setzen sich Lernende in diesem Sinn kritisch und reflektiert mit der Entstehung einzelner Gotteshäuser auseinander, bedarf es auch der schulischen Exkursion zu den „Heiligen Orten“. Schülerinnen und Schüler sollen, gerade wenn sie nicht der jeweiligen Religionsgemeinschaft angehören, die Stätten selbst erkunden können. Der Respekt und die Toleranz vor dem Glauben Anderer stehen hier an erster Stelle. Sobald sich die Jugendlichen auf die Beschäftigung mit ihnen unbekannten (Gottes-)Räumen einlassen, so die These, können sie sich neue Perspektiven auf das eigene Leben und die eigene Stadt gewinnen. Wenn sie etwa die erste Aachener Moschee erforschen, stellen sie schon beim erstmaligen Kontakt fest, dass das Gebäude gerade nicht an einem repräsentativen Platz der Innenstadt errichtet wurde, wie dies bei den meisten christlichen Kirchen der Fall ist. Vielmehr liegt das erste muslimische Gebetshaus sehr abgelegen, direkt an dem verkehrsintensiven Knotenpunkt des Westbahnhofs. Diese Lage kann Ausgangspunkt dafür sein, die Stellung der „Gastarbeiter“ in der Frühphase des bundesdeutschen Wirtschaftswunders zu beleuchten. Vergleiche mit der aktuellen Situation und mit den derzeitigen Bauprojekten für islamische Gemeinden liegen dabei auf der Hand.